Bildkommentare

Ferdinand E. Hart Nibbrig kom­men­tierte seine Bilder nicht und begleitete sie auch nicht mit theoretischen Reflexionen. Titel ließ er weg, denn er betrachtete sie als „Sehkrücken“ und „falsche Fährten“. Die Bilder – „Augen­sache“ – sollten für sich selber sprechen. Höchstens dann, wenn die Arbeit ins Stocken geriet, war von zwei gegensätzlichen Ten­den­zen – zeichne­rische Verhär­tung und malerische Verflüssi­gung zu Gunsten von Transpa­renz – die Rede, zwischen denen ein dynamisches Gleichgewicht vorübergehend nicht zu erreichen war. Von daher ist auch der Wechsel von Öl zu Aquarell und schließlich zu Acryl zu verstehen. Das rasche Trocknen dieses Farbmaterials zwinge ihn, so sagte er, den Malprozess immer wieder neu in Bewegung zu setzen und in Gang zu halten. Die nachfolgenden Texte dreier ver­schiedener Bildbetrachter sind mögliche Vorschläge zu einer fragenden, offen lassenden Bildlektüre:

  • ... die Grenzstadt Basel im Zweiten Weltkrieg – der flammende Himmel scheint davon zu sprechen; nicht zu übersehen: die drei Farben, die das Bild bestimmen, finden sich in der Flagge auf dem Schiff, das am Rheinufer festliegt, wieder. Es ist die Tricolore – die älteste Europas – der von Nazi-Deutschland besetzten Niederlande, Heimat des Malers, von der er aus politischen Gründen abgeschnitten ist ... C.L.H.N.
  • Sie sitzen mit verschränkten Gliedern und sind nebeneinander aufgereiht wie Buchstaben einer sperrigen, noch nicht entzifferten Pinselschrift. Sie geben etwas zu lesen.
    Heissen sie vielleicht „Enttäuschte Seelen“ oder „Lebensmüde“ und kommen von Hodler her? Wurden aus dessen Atelier und Pathos befreit und mit nonchalantem Schwung rück­über­setzt ins Dorf-Café?
    Und die Farben – kommen sie viel­leicht von Arles her und wissen von van Goghs Ackergelb und Nachtblau?
    Der mit der Mütze ist noch munter, hält das weisse Zeitungs­blatt ausgebreitet, vertieft in Gedrucktes, das unseren Augen verborgen bleibt. Möglicher­weise ist die Lektüre uner­freulich, wir sind in den 30er Jahren.
    Die Tür in der Wand steht offen, der Hockende blickt in braune Haufen. Das Fenster ist wie von Kinderhand kreuz­weis verschlossen zum Urzeichen von Geheimnis und versprochener Sicher­heit.
    Unter dem Strich, wie eine Unterschrift: Der Hund auf seiner Spur. Die Lauf­schrift des Lebens.
    Unterwegs in die Zukunft? Vielleicht in Giacomettis Atelier. AS
  • Der Sommer 1947 war sehr heiss, das ist aktenkundig.
    Die Felder glühen. Nur die Wolken ziehen sich weiss an und mögen spazieren gehen.
    Während unten das Familienleben am Gartenzaun ratlos ruht und jedes in sein Nirgendwo verebbt.
    Faul auch der Maler. Bevor ihm der Pinsel entfällt, hält er sich fest am Grüngrün des frischgestrichenen Gartentisches. Clowneskes Gestell, tapfer hochhaltend vage Geometrie. Etwas muss Form bewahren, wenn das Land vibriert, bereit stehen auf den Abend hin, wenn es kühler wird und die Menschen zur festen Stunde wieder zusammenkommen. AS
  • Zuerst war alles Schnee. Solange es Nacht war, wuchs am Hang ein Hain. Krähen fanden sich ein. Sie träumten vom Licht. Es wurde neblig und an drei Stellen gelb. Gestirn. Haus. Kind. Zuerst das Gestirn, dann das Haus, es flackert keck im Versteck, zuletzt das Menschenkind. Rund und da, in gelber Hut. Einen Weg hat es nicht zurück­gelegt, ist schon im Vordergrund. War wohl immer schon da. An der Schwelle zu uns da draussen, die das Sehen lernen. AS
  • ... dominierender Blickfang im nächt­lichen Hintergrund: die Erinnerung an den Piz Uccello im Mesocco-Tal, nachglühend in einem befremdlichen Licht; gemalt „par coeur“, wie der Maler seine Arbeitsweise nannte. Als ob die Kühe instinktiv die fahle Strahlung des eben aufgegangenen Vollmonds als Trieb verstünden, um nach vorne und nach unten gemeinsam aus dem Bild hinaus, heraus zu laufen in den Zwischen-Raum der Begegnung zwischen Bild und Betrachter, der auch hier, wie so oft, dazu eingeladen ist, sich auf die Übergänge zwischen verschiedenen Bewusstseinsgraden und Realitätsebenen einzulassen ... C.L.H.N.
  • Alltagsszenen beobachten, vom Arbeits­leben einfacher Leute ange­zogen werden, seien es Fischer in Portugal, Bauern oder Handwerker in Holland, wie einst Jozef Israels, in dessen Atelier im jüdischen Viertel der Vater zu Beginn in seiner Amsterdamer Zeit gearbeitet hat. Bilder von Max Liebermann, die in Laren entstanden sind: die Flachsscheuer, der Gang zur Kirche. Vielleicht hat der junge Hart Nibbrig sie von Abbildungen gekannt, auch seine Schusterwerkstatt oder die Nähschule und die Radierungen vom Amsterdamer Judenmarkt. AM
  • Ein Bild voller Bewegung mit verschie­denen Geschwindig­keiten. Auf Rädern heimwärts strebend ein Bauernpaar, am Wegrand vier turtelnde Tauben, eine alte Frau mit dem Gemüse-Wägelchen unterwegs, Mauersegler, die im Abendlicht, vor dem baldigen Wegzug in den Süden, den Kirchturm umkreisen. Minutiös durchgestaltet das Pflaster, die Friedhofsmauer, die Fläche des Kirchendaches, der glühen­de Abendhimmel, die farbigen Kirchen­fenster. AM
  • ... als ob Farbe früher wäre als Form: aus dem Farb-Stoff des roten geballten Wolkengebirges heraus scheint sich das grasende rote Pferd zu verkörpern; daneben ein weißes, staunend ver­träumt nach vorn in den optisch stark verkürzten Bildraum blickend; und im Vordergrund, unter Blumen, blühenden und welkenden, dieses Pferd noch ein­mal, als dessen Statthalter im Vorder­grund? Ein geträumtes Pferd im Pferde-Traum? Ganz Ohr, ganz Auge. Ist es noch Tier? Lebewesen jedenfalls, das seine Lebendigkeit teilt mit dem Menschen in solchem sich öffnenden Aufmerken. Farblich im geheimen Bund mit den weiß flatternden Wolken­fetzen im Himmel hinten und von dorther geheimnisvoll beglaubigt. Ein Bild im Bild, in rätselhafter Ver­größerung körperlos schwebend vor dem übrigen Bild, anders gemalt, im Medium einer anderen Realität zweiten Grades, entmaterialisierend ausge­spart, als schiene in dem hauchzarten nuancierten Deckweiß in einem blassen Mondlicht die Leinwand als Malgrund durch, herausragend aus dem Bild in eine andere Dimension, dem Betrachter entgegen, der, so gehört und so gesehen, immer schon im Bild ist, nicht mehr einfach davor und ihm gegenüber, und in dessen Auge, welches das Traumbild liest von hinten nach vorn und zurück, die gemalte Kreatur, wer weiß, erwartet, aufzuwachen, nicht aus, sondern in ihrem Träumen, und das Bild erst bei sich selber ankäme. Die strahlend gelbe Blumensonne in der strukturellen Bildmitte feiert die kleine Ewigkeit dieses Augen-Blicks voraus ... C.L.H.N.
  • ... wiedererkennbar: die Kirche von Oltingen im Elsass-Sundgau diesmal in provokativ zündendem Rot, welches das in diesem verzauberten und still verträumten Winterbild jäh ausbre­chende unbremsbar Wilde grundiert; es lebt sich aus in den Wild­schweinen, die den rötlichen Acker im Vordergrund rasend durchqueren. In dem jagenden Wolkentreiben – Schneefetzen im eingedunkelten Himmel oben, in der Gegenrichtung – scheint es wirksam, konzentriert und umgesetzt in Seelen­landschaft. Und so hält sich das Bild in zitternder Balance zwischen Ruhe und untergründiger Unruhe ... C.L.H.N.
  • ... seine späten Stilleben bezeichnete der Maler selbst als nature morte et vivante: malerische Meditationen über Lebendigkeit im Zusammenspiel gegenläufiger Kräfte­bewegung, von Verflüssigung und verhärtender Kristallisation, zentrifugal und zentripetal ... C.L.H.N.
  • «Wellenfittiche». Dem Bilde zu Grunde liegt die Natur­beob­achtung von Ge­fieder, fusionierend zu Wellenformen und in die Abstraktion führend. Natur wird über die gestaltende Hand zur autonomen Kunstwelt mit eigener Gesetzmässigkeit. Das gerne benutzte Rot-Blau-Weiss als Anspielung an die entfernt zurückliegende Herkunft? AM
  • Zur unbekannten Helligkeit führt das Tor zwischen den mächtig aufstre­ben­den Pfeilern der gotischen Architektur. Wartend und im Gebet die engelhaft beschatteten Menschen im theatra­lisch erleuchteten Innenraum. Erarbeitet in der widerständigen Acryl­farbe statt im elegant zerfliessenden Aquarell. Voll zaghafter Gewissheit die angedeutete Zone, die unseren neu­gierigen Blick empfängt. Über Jahr­zehnte ist das Motiv im Spannungsfeld zwischen Einsicht und Ahnung gewachsen, unvollendet blieb es als letztes Bild auf der Staffelei zurück. AM