Biografie

Ferdinand Elisa Hart Nibbrig (1903–1993)

  • Geboren am 22. Januar 1903 und aufgewachsen mit zwei älteren Brüdern und einer jüngeren Schwes­ter im holländischen Künstlerdorf Laren als Sohn des Malers Ferdinand Hart Nibbrig (1866–1915). Verlust des Vaters mit zwölf Jahren.

    Nach dem Abitur 1921 verdient er sich durch Kohleschaufeln die Überfahrt nach New York; hilft dem ältesten Bruder bei der Be­wirt­schaftung einer Farm am Hudson bei Albany. Von 1923 bis 1927: Arbeit beim Sugar Broker Lemborn & Co.

    Zwischenzeitlich: Besuch der Schwes­ter in Wien, die dort eurhythmischen Tanz studiert, der Mutter, Johanna Bertruida, geborene Moltzer, in Dornach bei Basel, wo sie sich inzwischen niedergelassen hat, des ältesten Bruders im Tirol, wo dieser einen Holzhandel betreibt.

    Zu Schiff durch den Panamakanal nach San Francisco. Job als Teller­wäscher im Hotel Saint Francis; dann in leitender Stellung in verschiedenen Firmen des internationalen Stahl­imports. Dies später auch in Los Angeles.

    Dazwischen immer wieder Reisen: nach Danzig, wo der älteste Bruder niederländischer Konsul ist, nach Dornach zur Mutter, nach Norwegen, wo er erste, verworfene Schreib­ver­suche unter­nimmt und zu zeichnen beginnt, nach Polen, wo der zweit­älteste Bruder einen Zuckerhandel betreibt. Zurück in den Vereinigten Staaten: mit Zelt quer durch Mississippi, Nevada, Arizona, New Mexico. Einige Monate auf Honolulu. Dann: als Assistent eines Ornitho­logen im Urwald von Celebes. Erste malerische Umset­zung der Eindrücke, die sich später in Erinnerungsbildern niederschlagen werden.

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    Zurück in die Vereinigten Staaten. Erste Ehe mit Getrude Potter in San Francisco, die 1934 geschieden wird. Amerikanische Staats­bürgerschaft.

    Über Vancouver nach Juno, Alaska, wo er allein in einer Hütte lebt; vorüber­gehend in einer Mink-Farm tätig; dann als Assistent eines Archäologen bei Ausgrabungen auf der Insel Kodiac.

    Rückkehr nach Kalifornien. Aus der Beziehung mit Annabelle Roy gehen zwei Söhne hervor, Nand Engie und Harald Christian.

    Um seinen künftigen Weg aus­schließ­lich als Maler zu gehen, glaubt er, statt nach New York nach Europa zurückkehren zu müssen. Radikaler Bruch mit dem in Amerika gelebten Leben.

    Lebt, zeichnend und malend, zu­nächst zeitweilig auf einem Wohn­boot in Amsterdam.

    1938: Heirat mit der Baslerin Elsbeth Witt (1915–1993).

  • Monatelanger Aufenthalt in Sibenik, Jugoslawien. Intensive malerische Tätigkeit.

    Bezug eines Ateliers in Paris.

    Nach Ausbruch des Zweiten Welt­krieges: alles zurücklassend, flucht­artige Rückkehr in die Schweiz im letzten verdunkelten Zug. Bezug einer Atelierwohnung in Dornach.

    Geburt des Sohnes Christiaan Lucas.

    Bis Ende der 50er Jahre: abwech­selnd, jeweils während der Sommer­monate, ausgedehnte Aufenthalte in den Schweizer Bergen (Grächen, Curaglia im Misox, Savognin, Lötschental) und andrerseits auf der westfriesischen Insel Terschelling. Mehrmals auch: Audierne, Bretagne.

    1949: niederländische Staats­bürgerschaft zurückerlangt.

    1953: Ausstellung in der Galerie Alioth in Basel mit 58 Werken.

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    60er Jahre: regelmäßige Aufenthalte in der Toskana auf dem Landsitz des ältesten Bruders zwischen Lucca und Viareggio, in Castagneto di Carducci und Bolgheri.

    70er Jahre: drei längere Aufenthalte in Nazaré, Portugal, wo er sich, zeichnend, wichtige malerische Anregungen holte.

    Von den 80er Jahren an bis zuletzt: regelmäßige Ausflüge ins benach­barte Elsass/Sundgau (vor allem Oltingen, wichtige malerische Motivquelle, mit seiner Kirche und dem Friedhof, der ländlichen Umgebung mit dem weiten, ihn an Holland gemah­nenden Himmel, der Roma-Siedlung, wo er Einlass fand.)

    Gestorben am 8. Mai 1993 in Dornach.

    September 1994: Gedächtnisausstellung im Orts­museum „Trotte“ in Arlesheim

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    Literatur:
    Monographie Ferdinand E. Hart Nibbrig.
    Mit einem Text von Christiaan L. Hart Nibbrig. Ittigen 1994

Nah und ebenso fern im Bewusst­sein des jungen Ferdinand E. Hart Nibbrig stand sein früh verstorbener Vater, der akademisch geschulte und in Holland allseits anerkannte Maler Ferdinand Hart Nibbrig. Das Verbindende: Wie er hatte er ein intensives Interesse am Alltags­leben einfacher Hand­werker, Bauern und Fischersleute. Früh hat er sich von der holländischen Heimat losgerissen und er erfuhr erst auf seinen Reisen und beim Zeichnen unterwegs, dass Kunst ihm zum Lebensmittelpunkt werden musste. Der heimatlose Künstler, stets nach einer neuen Bleibe suchend, strandete in der Kriegszeit in Dornach bei Basel. Er blieb auch hier letztlich ein Fremder. Das weltpolitisch bedrängte Basel am Nordrand der Schweiz war wenig offen, um diesen Weltenbummler mit ame­ri­kanischem Pass auf­zu­nehmen und als Künstler zu würdigen. So blieb er auch nach dem Kriege bis ins hohe Alter ein publikums­scheuer Aussenseiter, der sich in seiner Kunst mit ihrem kreativen Eigensinn eine Heimat fern aller Idylle schuf. Er hat sich in seinen Bildern ermalen müssen, wo er einzig sich heimisch fühlen konnte. In den kräftigen und farben-prächtigen Bildvisionen, die im Alter entstehen, sind apokalyptische Momente und Erlösungshoffnungen nahe beieinander.
Zunehmend energischer und freier wurde sein Ausdruckwille, kräftiger seine malerische Handschrift, visionär sein Auge. Nie nachlassend von Anfang an: die staunende Aufmerksamkeit für alles, was er sieht und was er, sei’s ins Fremde, sei’s imaginativ ins Innere entrückt und zu sehen gibt auf seinen Bildern und, wie durch Fenster, durch sie hindurch. Wenn Aufmerksamkeit, wie Novalis sagte, das natürliche Gebet der Seele ist, dann hat dieser Maler in zunehmendem Maße so gebetet. Und weil er in besorgtem Interesse bis zuletzt kritisch wach am Weltgeschehen täglich teilnahm, lässt sich seine Zuwendung zum vermeintlich Unscheinbaren – Berg, Pflanze, Tier, menschliche Gebärde und Ausdruck – nicht einfach als Rückzug ins Harmlose abtun, sondern verstehen als male­risches Trotzdem und Erstrecht.

Dokumentiert wird in dieser ins Netz gestellten Folge ausge­wählter Bilder ein stilles unbeirr­bares Malerleben im Wind­schatten der lautstarken und von Erfolg getragenen Malerei des 20. Jahrhunderts und ihren wech­seln­den Stilrichtungen. Ein neues Zeitalter im Zeichen des Internets bietet diesem zu Unrecht über­sehenen und zu entdeckenden Oeuvre die Mög­lich­keit einer späten Sichtbarkeit und der Nachachtung künftiger Betrachter.

Der Vater

Ferdinand Hart Nibbrig (1866–1915) und das Künstlerdorf Laren
  • Ferdinand Hart Nibbrig wurde in eine kunstsinnige Kauf­manns­familie in Amsterdam geboren. Sein Talent, von Maler­freunden des Vaters entdeckt, führte ihn zu einer fünfjährigen künstler­ischen Ausbildung an der Rijksakademie in Amsterdam, gefolgt von einem Aufenthalt an der Académie Julian und im Atelier Cormon in Paris. Befreundet mit Pissarro. Zunächst beeinflusst vom Amsterdamer Impressionismus kam er in Berührung mit der Malerei Vincent van Goghs und Georges Seurats Pointillismus. Sein erstes Atelier in Amsterdam gehörte ursprünglich Jozef Israëls. Anfangs der 90er Jahre zog er nach Laren, nordöstlich von Hilversum, 1895 heiratete er in Amsterdam Johanna Bartruida Moltzer (1869-1957).

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    Johann Cohen Gosschalk (1873-1912).
    Porträtzeichnung von Ferdinand Hart Nibbrig

    Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahr­hunderts war Laren ein Bauerndorf. Entdeckt wurde es 1870 vom Maler Jozef Israëls und einigen Mitgliedern der Haager Schule wegen seiner Unberührtheit und der landschaftlichen Motivvielfalt. Zu dieser ersten Generation gehörten Anton Mauve, Albert Neuhuys und einige weitere Künstler. Allmählich entstand hier eine Künstlerkolonie, derjenigen von Worpswede vergleichbar. Ab 1884 malte Max Liebermann, ein Freund Jozef Israëls, hier wiederholt einige Bilder, wie die „Flachsscheuer von Laren“ und „Sonntagnachmittag in Laren“.

  • Ferdinand Hart Nibbrig gehörte zur zweiten Generation von Künstlern, die Laren um die Jahrhundertwende neu belebten. Hierhin zog auch der amerikanische Maler und Sammler William Henry Singer, der 1911 eine Villa baute, neben der später ein modernes Kunstmuseum entstand, in dem die Larener Schule eine Heimstätte fand und wo sich auch eine Reihe von Hart Nibbrigs Bildern befinden.

    Hart Nibbrig brachte mit dem von ihm geprägten Luminismus eine starke Aufhellung der Farben nach Laren. Er hatte hier einige Schüler wie Jacoba van Heemskerck. 1908 trat seine Frau Johanna aus der holländisch-refor­mierten Kirche aus und begann sich für Theosophie zu interessieren. Darin folgte ihr später auch ihr Mann. Hart Nibbrigs 1910 erbautes Larener Atelier­haus wurde zum Begegnungs­ort theosophisch-philosophischer Diskussionen. In dieser Umgebung wuchs der 1903 geborene Sohn Ferdinand E. Hart Nibbrig mit seinen drei Geschwistern auf.

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    Ferdinand Hart Nibbrig.
    Porträt des Sohnes Ferdinand. E. Hart Nibbrig
    um 1907

    Der Vater Ferdinand Hart Nibbrig hat in der holländischen Kunst der Jahr­hundert­wende einen bedeutenden Platz. Nach ihm ist in Amsterdam und in Den Haag eine Strasse benannt. (AM)